Modell der Wissensvermittlung
Wissensvermittlung bezieht sich auf Ansätze und Methoden zur Anregung, Förderung und Unterstützung der verschiedenen Lernprozesse. Vermittlung von Wissen impliziert das Transferieren von Wissenselementen vom Lehrenden zum Lernenden. Hierbei ist Wissen kein objektiver, transportierbarer Gegenstand, sondern das Ergebnis von Konstruktionsprozessen einzelner Individuen. Die Lehrperson hat ihre Kenntnisse in eine klare Struktur eingebunden, die aus theoretischen Kenntnissen und praktischen Erfahrungen besteht.
Die folgende Liste verschriftlicht in 13 Schritten dieses ‘Modell der Wissensvermittlung’:
01
In diesem vereinfachten Modell möchte die Lehrperson ein bestimmtes Wissenselement vermitteln, über das die Studierenden anschließend verfügen können.
02
Dieser Wissenstransfer ist jedoch nicht so einfach. Das zu vermittelnde Wissen liegt in der Lehrperson nicht als abgekapseltes Wissenspaket vor. Vielmehr ist es eingebettet in ein wohlgeordnetes Gefüge von Theorien und Begriffen. Dieses Gefüge hat sich die Lehrperson im Laufe vieler Studien- und Expertenjahre erworben. Es ist ihr in vielen Teilen so vertraut, dass sie sich nur schwer in die Rolle eines fachlichen Neulings begeben kann. Die Lehrperson setzt daher leicht Wissen als selbstverständlich voraus, das die Studierenden noch nicht besitzen.
03
Die Lehrperson hat ihre praktischen Erfahrungen in einem Netzwerk theoretischen Verständnisses geordnet. Wenn Studierende die von der Lehrperson angebotene Information aufnehmen, ist sie zunächst ein “Fremdkörper”.
04
Studierende sind kein “unbeschriebenes Blatt”, kein leeres Aufnahmegefäß für Informationen. Sie verfügen bereits über eine Fülle von Konzepten und praktischen Erfahrungen. Allerdings unterscheidet sich ihre Fachwissensstruktur von derjenigen der Lehrperson. Sie ist ungeordnet, unscharf und in manchen Bereichen unrichtig. Die Studierenden haben ihr Wissen noch nicht zu einem in sich stimmigen, leistungsfähigen Netzwerk ausgebaut, das die korrekte Einordnung neuer Erfahrungen erlaubt.
05
Nach der Konfrontation mit dem neuen Wissenselement beginnt für die Studierenden eine entscheidende Phase des Wissenserwerbs. Sie suchen aktiv nach Verbindungsmöglichkeiten des neuen Wissenselementes mit der Vorwissensstruktur oder Diskrepanzen zu ihr. Sie bemühen sich darum, das Netz ihres Vorwissens so umzustrukturieren, daß sich das neue Element widerspruchsfrei einordnen lässt. Man könnte diesen Prozess als ein “Andocken” des neuen Wissenselements bezeichnen.
06
Für diesen “Andock”-Prozess sind zwei Faktoren von entscheidender Bedeutung:
I. Lernende müssen sich aktiv mit dem neuen Wissenselement auseinandersetzen. Sie müssen bereit und in der Lage sein, ihr Vorwissen im Hinblick auf die Integration des Neuen umzustrukturieren. Dazu gehört auch das Bemühen, eigene Vorstellungen gedanklich zu variieren und so eine Reihe von Möglichkeiten durchzuspielen.
II. Treten Probleme bei der Integration des neuen Wissenselements auf, wird sich dies durch Fragen der Studierenden äußern.
07
An diesem Punkt der Integration neuen Wissens ist es außerordentlich wichtig, dass Studierende die entstehenden Fragen auch stellen können und soweit als möglich beantwortet bekommen. Geschieht dies nicht, werden sie nach kurzer Zeit versuchen, sich das dargebotene Wissen kritiklos einzuverleiben!
08
Es gibt viele Möglichkeiten zu zeigen, dass Fragen nicht willkommen sind: Ignorieren der Meldungen, Kritik am Fragenden, Hinweis, daß die Fragestellung nicht in den Veranstaltungskontext passt und so weiter. Wird ein solches Verhalten gegenüber auch nur einer Person gezeigt, kommt die zugehörige Botschaft der Ablehnung von Zwischenfragen zugleich bei allen anderen Studierenden an. Es wird daher in der ganzen Lerngruppe die Gewohnheit gefördert, Wissen unhinterfragt – und ohne den Versuch einer Vernetzung – in isolierten Einheiten aufzunehmen. Wer in Prüfungen dann auch noch die exakte Wiedergabe der gegebenen Informationen verlangt, ohne durch den Verarbeitungsprozess entstandene individuelle Abweichungen in der Ausdrucksform zu dulden, der unterstützt dieses isolierte Lernen auf fatale Weise.
09
Wer fachliche Inhalte wirklich verstanden hat, der kann sie in der Regel auch in einfacherer Sprache erläutern. Wer die Inhalte dagegen nur isoliert gelernt hat, dreht sich mit seinen Erklärungsversuchen im Kreis und kann die Sphäre der Fachterminologie nicht durchbrechen. Die hilflose Wiederholung von Fachtermini ohne ein tieferes Verständnis ist ein häufig in Prüfungen anzutreffendes Phänomen. Dieses Wiederholen ist ein sicherer Hinweis darauf, dass nicht in aktiv vernetzender Weise gelernt wurde. Ein vielseitiger Zugriff auf das betreffende Wissenselement ist dann nicht möglich, und die Kenntnisse bleiben oberflächlich. Der “Wissenslack” glänzt im besten Falle in der Prüfung und blättert bei der kleinsten Beanspruchung wieder ab.
10
In dieser Phase der Vernetzung des neuen Wissens ist der intensive Austausch mit anderen Studierenden wichtig. Andere Studierende haben oft selbst gerade eine vergleichbare Umstrukturierung ihres Wissensnetzes erfahren. Sie erinnern sich noch an die damit verbundenen Probleme. Experten aber haben ihr Netz schon vor langer Zeit stabilisiert und können sich an Probleme nicht mehr erinnern. Bei der Erweiterung des Wissens ist es unvermeidbar, dass alte Verknüpfungen aufbrechen. Die Auflösung unzutreffender gedanklicher Koppelungen kennen weiter fortgeschrittene Mitstudierende noch. Sie erkennen Verständnisblockaden deshalb leichter.
Der Präsentation des Wissens in der Vorlesung sollte eine Verarbeitungsphase im Gespräch mit Kommilitonen folgen, z. B. im Rahmen zwischengeschalteter interaktiverer Seminarphasen oder innerhalb eines Tutoriums. Zugleich sollten Studierende zu aktivem Hinterfragen und systematischem Suchen nach Antworten ermutigt werden.
11
Die einzelnen Veranstaltungsformen haben unterschiedliche Aufgaben in diesem Prozess:
In Übungen werden die geknüpften Verbindungen zwischen Wissenselementen auf der Ebene theoretischer Fertigkeiten stabilisiert.
Laborveranstaltungen und Praktika fördern diesen Stabilisierungsprozess im Hinblick auf praktische Fertigkeiten. In beiden Fällen handelt es sich meist um klar vorgegebene Aufgabenstellungen, die nach einem zuvor vermittelten Verfahren und im Rahmen eines engen Fachgebietes zu lösen sind.
12
An der Hochschule sollen Studierende lernen, zunächst unbekannte Probleme lösen zu können. In der Regel sind diese Probleme nur in Projektgruppen und unter Einsatz des Wissens aus unterschiedlichen Disziplinen erfolgreich zu bearbeiten. Vorhandenes Wissen muss selbständig auf seine Brauchbarkeit hin geprüft und gegebenenfalls an die Erfordernisse des konkreten Problems angepasst werden.
In dieser Phase des Transfers auf offene Problemsituationen zeigt sich, ob die erworbenen Wissensstrukturen einer Belastung durch die Praxis standhalten. Erst wenn das Wissen diese “Feuerprobe” bestanden hat, wenn das im Studium geknüpfte Wissensnetz zugleich anpassungsfähig und belastbar ist, hat der Lernprozess sein Ziel erreicht.
13
Wissen, das nicht alle diese beschriebenen Phasen:
- Wissenskonstruktion
- Wissensvernetzung
- Wissenstransfer
- Wissensanwendung
durchlaufen hat, wird für die spätere Berufstätigkeit weitgehend wirkungslos bleiben.